Die Zivilgesellschaft hat bei internationalen Formaten oft wenig zu sagen. Die Staaten machen wichtige Entscheidungen untereinander aus. Einen anderen Ansatz wählt seit Jahren das Internet Governance Forum. Hier werden möglichst viele Stakeholder involviert. Gut so, findet Tobias Bacherle. Doch das Mandat des UN-Forums muss verlängert werden. Der Grünen-Politiker plädiert für ein noch offeneres Nachfolgeformat.
Als Anfang August in New York die umstrittene UN-Cybercrime Convention angenommen wurde, warnten Zivilgesellschaft und Tech-Community bis zuletzt in Form von Brandbriefen, Blogbeiträgen und Interviews vor einem schlechten Kompromiss – und mussten damit sinnbildlich vor der Tür warten. Die UN-Verhandlungen waren zwar öffentlich, die warnenden Organisationen mussten sich aber immer wieder aufwendig Regierungsstimmen am Tisch suchen, um ihre mahnenden Worte in die Verhandlungen einzubringen.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns aus guten Gründen vorgenommen, diese Einbindung der Zivilgesellschaft und anderer Stakeholder insbesondere in digitalpolitischen Vorhaben zu stärken, zu unterstützen und wo es geht zu institutionalisieren. Deswegen haben wir verschiedene Formate auf den Weg gebracht. Vom Beirat der Digitalstrategie und des Koordinators für Digitale Dienste bis zur Gründungskommission des Dateninstituts. An Grenzen stößt dieses Vorhaben aber schnell auf internationaler Ebene. Oft genug sind diese multilateralen und UN-Prozesse als Regierungsformate aufgesetzt. Dort wollen autoritäre Staaten nur allzu gerne die Türen schließen und ungestört ihre Angriffe auf die Freiheit im Digitalen verhandeln. Deutschland ist eine elementar wichtige Stimme, um die Meinung der nicht eingebundenen aus den Positionspapieren und offenen Briefen an die Verhandlungstische zu tragen. Doch wäre es nicht viel sinnvoller, Zivilgesellschaft, Tech-Community, kommerzielle Stakeholder und Regierungen einfach direkt zusammenzubringen?
Die Antwort darauf ist der Multi-Stakeholder-Ansatz, der auf dem Internet Governance Forum (IGF) bereits seit inzwischen über 20 Jahren lebt. Im kommenden Jahr steht die Verlängerung des Mandats für das UN-Forum an. Eine Chance, die gerade in den Verhandlungen des Global Digital Compact (GDC), der gemeinsame Grundsätze für eine offene, freie und sichere digitale Zukunft für alle skizzieren soll, genutzt werden muss: Das IGF muss gestärkt und weiter entwickelt werden.
Ist das noch Internet Governance?
Viel Zeit und Veränderung ist seit den Nuller Jahren vergangen, als das erste Forum für Fragen der Internet Governance, also die organisatorische, wie technische Verwaltung und Regulierung des Internets, in Athen stattfand. Längst sind beispielsweise die Grenzen zwischen digitaler Regulierung und Internetpolitik verschwommen – bestes Beispiel ist die jüngste Debatte um die Frage, unter welchen Bedingungen Daten für das Training von generativen KI-Modellen gecrawlt werden dürfen und wie sich das Urheberrecht hierzu verhält.
Die Frage, ob das noch Internet Governance ist, führt dabei schlimmstenfalls in weiteres Silodenken. Dabei brauchen wir doch das Gegenteil. Das Internet Governance Forum sollte nach dem großen, digitalen Vorhabenkatalog der UN, dem GDC, zu einer globalen Plattform für Fragen der Digitalisierung weiterentwickelt werden. Zum Global Digital Forum.
In der Internet Governance gilt seit jeher das Prinzip der unabhängigen Selbstverwaltung auf Basis des Multi-Stakeholder-Modells. Akteur*innen aus technischer Community, Wirtschaft, Zivilgesellschaft sowie Regierungen arbeiten zusammen in internationalen Institutionen wie der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) und gestalten die Entwicklung des Internets – oft auch gegen die Wunschvorstellungen vieler autokratischer Staaten.
Einer der Maschinenräume des Multi-Stakeholder-Modells der Internet Governance ist das IGF. Immer wieder hat das IGF Debatten um die Freiheit des Internets unter dem UN-Schutz auch an Orte getragen, die von Zensur und Überwachung geprägt sind. Auch Saudi-Arabien, diesjähriger Gastgeber, ist gewiss kein Garant für ein freies und sicheres Internet.
Das IGF trifft keine verbindlichen Entscheidungen – und das ist seine große Stärke. Dadurch entsteht die Möglichkeit aller betroffenen Stakeholder, sich offen und ohne Druck eines Konsenses über divergierende Positionen auszutauschen und Best Practices zu teilen. Wünsche von Regierungen nach mehr Verbindlichkeit sind teilweise nachvollziehbar, sie sollten sich jedoch einen Platz in genau diesem offenen Prozess suchen, anstatt weitere, wieder abgekoppelte Formate zu schaffen.
Den Grundstein im Global Digital Compact legen
Geäußert werden diese Wünsche auch bei den Verhandlungen in New York zum multilateralen Global Digital Compact (GDC), der am Wochenende des 21. und 22. Septembers auf dem Summit of the Future der UN beschlossen werden soll. Der GDC soll gemeinsame Grundsätze für eine offene, freie und sichere digitale Zukunft für alle skizzieren. Dabei sind sich die beteiligten Staaten alles andere als einig, was für gemeinsame Grundsätze das sein sollen. Die langjährigen Grundprinzipien eines globalen, freien, offenen, sichereren Internets sind längst kein natürlicher Konsens mehr.
Ein zentraler Streitpunkt, der sich durch die Verhandlungen zieht, ist aber, welche Strukturen und Organisationen neu geschaffen werden – und damit auch, welche Zukunft das Multi-Stakeholder-Modell in der Internet Governance hat.
Nicht nur China und Russland bevorzugen Strukturen, die sich auf die multilaterale Zusammenarbeit zwischen Regierungen konzentrieren und andere Stakeholder ausschließen. Die Gruppe der 77, ein Zusammenschluss aus 130 Staaten, darunter viele aus Südamerika, Afrika und Asien, scheinen diesem Ziel zu folgen. Obwohl das IGF laut dem aktuellen Entwurf politisch unterstützt wird, ist es nicht ausdrücklich in die Umsetzungsstruktur integriert, sondern es werden konkurrierende Formate geschaffen.
Stattdessen sollten sich neue Formate dorthin bewegen, wo Diskussionen schon heute stattfinden: In den Multi-Stakeholder-Dialog auf dem Internet Governance Forum, das dann zum Global Digital Forum weiterentwickelt wird.
Ein starkes Global Digital Forum wird den politischen Dialog für alle Interessengruppen öffnen und kann bewusst kritische Perspektiven stärker einbeziehen. Betroffene, Zivilgesellschaft und Expert*innen müssen in wichtigen digitalpolitischen Prozessen mitreden und dürfen nicht mehr vor der Tür stehen bleiben. Die anstehenden Verhandlungen zum Nachfolgemandat des IGF sind die Chance, das Kopfzerbrechen über die Frage, wo Internet Governance endet, und Digitalpolitik beginnt, hinter uns zu lassen, und es klar zu dem einen Ort des Dialogs und Diskussion über Digitales machen. Zum Global Digital Forum.
Tobias Bacherle (Grüne) ist Obmann im Digitalausschuss und Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.
Der Gastbeitrag ist im Tagesspiegel Background erschienen.